Kopie or not Kopie*
Vom Umgang mit dem Erbe der Bogenbaukunst

*Sehr frei nach William Shakespeare

Welcher Geiger, Bratscher oder Cellist hat sich nicht schon einmal gewünscht, einen echten Tourte-Bogen sein eigen zu nennen, mit ihm zu konzertieren? Was aber macht die Faszination dieser Meisterwerke der Bogenbaukunst aus? Ist es nur der Preis, der für solche Objekte auf Auktionen erzielt wird oder sind es die weit verbreiteten Legenden über diesen außergewöhnlichen Meister? Oder sind es doch die spiel- und klangtechnischen Eigenschaften dieser Bogen, welche bei namhaften Künstlern, die das Glück hatten und haben, mit solchen Meisterwerken musizieren zu dürfen, zu hören und zu spüren sind.

Die Familie Tourte hat mit unglaublicher Energie die Entwicklung des Streichbogens vorangetrieben. In einer relativ kurzen Periode von etwa 40 Jahren entstand so aus dem barocken Bogen - über den Hammerkopf- oder auch Cramerbogen genannt - die moderne Bogenform mit dem typischen Kopf und in etwa dem Frosch, wie wir ihn heute kennen. Dabei hat Tourte behutsam Schritt für Schritt die Nachteile der bisherigen Bogenformen überdacht und den musikalischen Bedürfnissen der Zeit angepasst.

Zunächst wurde der Abstand der Haare am Kopf deutlich vergrößert. Die hammerförmige Kopfform entstand. Aus der S-förmigen Biegung der Barockbogen entwickelte sich die V-Form (siehe Skizze auf der nächsten Doppelseite), die sich nach Tourte im Zuge der „Perfektionierung“ immer mehr einer mathematischen, logarithmischen Formel anpasste. Der Hammerkopfbogen, mit sehr leichtem Frosch und Beinchen, der Schraube, deren Endknopf oft aus Elfenbein gefertigt war, war nun ausgesprochen kopflastig. Dies hatte zur Folge, dass die moderne Kopfform entstand und der Frosch mit Froschring, Zwickel und Schub ausgestattet wurde und das Beinchen mit zwei Metallringen versehen, nun um 2 Gramm schwerer wurde. Die Bogen hatten nun ein Gewicht um 56 g. Der Gleichgewichtspunkt des Bogens wurde so optimiert.

Analysiert man jedoch die vorliegenden Originale, so stellt sich entgegen jeder Erwartung heraus, dass die Biegung und Steifigkeit von allen modernen Bogen deutlich abweicht. Die V-förmige Biegung ist, wenn auch bei vielen Exemplaren von „Fachleuten“ verändert, bei jedem Bogen angelegt und die Flexibilität der Stangen erreicht Messwerte, von denen man zunächst annehmen könnte, dass eine kontinuierliche Tonerzeugung damit unmöglich sei. Trotzdem hat man den Eindruck, dass die Bogen mit der Saite regelrecht „verkleben“, den Ton aus dem Instrument nahezu heraussaugen. Ursache hierfür ist eben genau diese Kombination aus Flexibilität der Stange mit der skizzierten Biegung. Hierdurch können Kopf und Frosch derart nachgeben, dass lediglich durch Zug- und Schubbewegungen nahezu ohne Druck der Ton erzeugt werden kann. Fehlendes Gewicht ist als Manko nicht mehr auszumachen, der Ton ist groß, facettenreich und modulationsfähig. Der Bogen übernimmt kleinste Impulse des Musikers und reagiert spontan. Er verzeiht viel, aber er widersetzt sich auch, wenn der Musiker versucht, gegen den Bogen zu „arbeiten“. „Er tut halt von selbst“ ist ein oft gehörter Kommentar.


Bogen 1 (oben): Barockviolinbogen, Werkstatt Stradivari (mit höchster Wahrscheinlichkeit zugeschr.), frühes 18. Jahrhundert
S-förmige Biegung
Bogen 2 (unten): Klassischer Violinbogen, Cramer-Modell, Frankreich, um 1780-90,
V-förmige Biegung

Diese Meinung über die eigenen Arbeiten zu hören, ist das Ziel jedes Bogenmachermeisters. Und so versucht er, die Ursachen für diese Eigenschaften zu ergründen. „In dieser unförmigen Biegung kann die Ursache wohl nicht zu suchen sein.“ „Auch diese flexible Stange lässt sich verbessern.“ So und ähnlich argumentieren viele Bogenmacher und vergeben damit ihre Chance, die „Geheimnisse“ der alten Bogen zu lüften. Oft war und ist dabei ihr Bestreben, „offensichtliche“ Fehler oder Normabweichungen zu verbessern. So entstehen oft wunderschön anzuschauende Kopien mit exzellent ausgearbeiteten Köpfen, formschönen Fröschen und präzise ausgearbeiteten Beinchen. Lediglich die Stange folgt nicht dem Vorbild. Die Stangen sind mathematisch perfekt gebogen und steif, mit dem Resultat technisch gut funktionierender Bogen. Mit einem kleinen Makel: sie erzeugen einen engen, scharfen Klang und können im Extremfall sogar das Instrument erdrücken. Warum? Die Haarspannung erhöht sich und die Kontaktstelle der Haare auf der Saite wird verringert. Vertikaler Druck muss aufgebaut werden, damit die Saite mitgenommen wird. Dadurch verstärkt sich der Wunsch nach schwereren Bogen, die diese Arbeit abnehmen. Höheres Gewicht bedeutet im Umkehrschluss natürlich auch wieder höhere Steifigkeit der Stange und somit eine weitere Erhöhung der Haarspannung. Hierzu gesellt sich noch die Angst vieler Bogenmacher vor der Aussage der Musiker, dass die Bogen zu weich sind. Diese Aussage basiert jedoch auf einem uralten Missverständnis im Sprachgebrauch zwischen Bogenmachern und Spielern. Der Bogenmacher denkt bei den Begriffen „hart“ oder „weich“ bzw. „steif“ oder „flexibel“ zunächst immer an die physikalische Festigkeit des Holzes. Führt jedoch der Streicher einen Bogen ohne Eigenimpuls über die Saite, kommt es im Falle der Abweichung der Biegung von einer wie auch immer auszusehenden Ideallinie oder bei einem Ausarbeitungsfehler in der Stange zu einer vertikalen Eigenbewegung derselben. Sie schlägt auf die Saite und wird, unabhängig von der physikalischen Festigkeit der Stange, als „weich“ empfunden. Zudem erschrickt der Spieler und versucht auszugleichen. Dieser Effekt tritt unabhängig von der Steifigkeit des Bogens auf. Oftmals erhalten jedoch Bogenmacher, welche vorwiegend an Zwischenhändler liefern, Rückmeldungen, dass ihre Bogen zu „weich“ seien, ohne dass die Ursache übermittelt wird und was noch größere Folgen hat, ohne das es stimmt. Der Effekt ist, dass die nächste Lieferung an denselben Händler, physikalisch gesehen, noch steifer ausfällt, die eigentlichen Fehler jedoch nicht erkannt und behoben werden.

Die Suche nach den Gründen für die besonderen Eigenschaften alter Bogen führt uns also nun in die entgegengesetzte Richtung. Wir müssen uns mit den Faktoren Festigkeit, Ausarbeitung und Biegung der Bogenstange beschäftigen.

Was genau muss ein Bogenmacher nun also tun, wenn er wirklich an die Leistungen seiner alten französischen Kollegen anknüpfen will? Wie schafft man es, alte Bogen so zu kopieren, dass die Kopie nicht nur so aussieht wie das Original, sondern sich auch so anfühlt, so spielt und so klingt?

An allererster Stelle steht die Holzauswahl. Fernambukholz, das Holz aus dem die meisten hochwertigen modernen Bogen für Streichinstrumente hergestellt werden, besteht aus ca. 125 verschiedenen Unterarten, von denen etwa 12 im Bogenbau Verwendung finden. Je nach Wuchsort, Bodenbeschaffenheit, klimatischen Bedingungen und Position der ausgesägten Stange innerhalb des Baumes, gibt es Variationen in den physikalischen Eigenschaften, wie Festigkeit (Elastizitätsmodul bzw. E-Modul) und Dichte.

Für eine Kopie müssen diese Eigenschaften in Original und zu bearbeitender Stange übereinstimmen. Die Werte schwanken zwischen 16 und 38 N/mm² für den E-Modul und 0,80 und 1,40 g/cm³ in der Dichte, wodurch sich ca. 1500 verschiedene, relevante Kombinationen ergeben. Die Wiener Bogenmachermeisterwerkstatt Thomas M. Gerbeth hat hierfür ein Messverfahren entwickelt, das es ermöglicht, diese physikalischen Werte sowohl von einem fertigen Bogen (Original) als auch für eine roh zugesägte Stange (die die Kopie werden soll) zu berechnen. Gemeinsam mit Günter Teuschler aus Erlangen (D), dem Schwiegervater von Thomas Gerbeth, wurde zu diesem Zweck ein Computerprogramm entwickelt, mit dessen Hilfe die Daten in nahezu jeder Arbeitsstufe hochgerechnet werden können. Stärkenmaße und Festigkeitsverläufe werden hier in Relation gesetzt und von der rohen Stange hin zu den Maßen des Endproduktes bzw. umgekehrt interpoliert.

Dieses Messverfahren in Verbindung mit dem Computerprogramm ermöglicht eine genaue Kontrolle über den Festigkeitsverlauf einer Stange auch während des Arbeitsprozesses. Diese technischen Hilfsmittel dienen jedoch nur der Überprüfung, der Materialauswahl und der Materialsortierung. Der handwerklichen Kunst des Meisters obliegt es nun, die vom Programm empfohlenen Werte am Werkstück umzusetzen. Hierzu bedient er sich der traditionellen handwerklichen Techniken mit Hobel, Feilen und Schnitzer, oft in ähnlicher Weise wie die Meister im Frankreich des 19.  Jahrhunderts.

Werden in anderen Firmen oft erst während des vorangeschrittenen Verarbeitungsprozesses Stangen aussortiert, die der auf bloßem Gefühl basierenden Vorsortierungen nicht entsprachen, weiß Thomas Gerbeth bereits zu Beginn der Arbeit an jeder einzelnen Stange, wie das Endprodukt aussehen wird, welches Gewicht es haben wird, welchen Gleichgewichtspunkt und welche Spieleigenschaften. Die Ausnutzung seiner ungefähr 6000 im Lager befindlichen Rohstangen des leider sehr rar gewordenen Holzes ist somit absolut optimal. 

Für die Kopie beispielsweise eines Tourte-Bogens bedeutet dies folgendes:

Nachdem der Originalbogen in allen seinen Maßen (Gesamtgewicht, Gewichte der verschiedenen Einzelteile, Längen-, Höhen- und Stärkenmaße, Gleichgewichtspunkt ...) dokumentiert wurde, wird daraus der E-Modul und die Dichte des Holzes errechnet. Nun sucht Thomas M. Gerbeth in seinem Fernambukholzlager eine entsprechende, roh zugesägte Stange mit übereinstimmenden physikalischen Eigenschaften. Hat er die optimale Stange gefunden und es gelingt ihm, die vom Original abgenommenen Abmessungen bei der Kopie exakt zu erreichen, wird die Kopie letztendlich das gleiche Gewicht, den nahezu gleichen Festigkeitsverlauf und den Gleichgewichtspunkt wie das Original haben.


Bogen 3 (oben): Violinbogen, F. X. Tourte, Frankreich, um 1820,
V-förmige Biegung
Bogen 4 (unten): moderner Violinbogen,
mathematisch, logarithmische Biegung

Für die Spiel- und Klangeigenschaften von immenser Bedeutung ist jedoch auch die Biegung. Nur eine genaue Kopie der Biegung kann auch die Vergleichbarkeit zum Original herstellen. Manchmal ist es sogar möglich, kleinere Unstimmigkeiten, die beim Original vorhanden sind, bei der Kopie durch Biegungskorrekturen auszugleichen.

Die Möglichkeit zur Kopie von alten Bogen stößt jedoch auch an Grenzen. Ganz wichtig ist für Thomas Gerbeth, dass der Eigentümer des Originals in jedem Fall mit einer Kopie seines Bogens einverstanden sein muss. Da er für seinen Bogen in der Regel weit mehr Geld bezahlt hat, als eine Kopie kosten würde, hat er auch ein Recht dazu über die Existenz eines „Zwillings“ zu entscheiden. Damit umgeht man auch den sehr unangenehmen Umstand eines Konfliktes zwischen unserer Werkstatt und den Instrumentenbauerkollegen bzw. Fachhändlern, die auf den Verkauf ihrer alten Bogen angewiesen sind und es verständlicherweise nicht gerne sehen würden, wenn sich ein Kunde ein teureres Stück zur Ansicht ausleiht, es kopieren lässt und das Original wieder zurückbringt.

Auch muss davon ausgegangen werden, dass bei aller Perfektionierung des Messverfahrens und der Arbeitstechniken, es immer einen kleinen Rest gibt, welcher die absolute Übereinstimmung zwischen Original und Kopie verhindert. Gelingt es jedoch dem Künstler, die Unterschiede zu umreißen, versteht es Bogenmachermeister Gerbeth durch Feinkorrekturen der Biegung die Kopie dauerhaft zu optimieren. Da der Künstler in der Regel sein Instrument und den Originalbogen, bzw. die von ihm gewünschten Eigenschaften am besten kennt, wird die Feineinstellung in der Biegung in einer gemeinsamen Sitzung durch den Bogenmachermeister vorgenommen.

Wann macht die Kopie eines alten Bogens also wirklich Sinn? Es gibt verschiedene Beweggründe, die Musiker zum Wunsch einer Kopie treiben: Zum einen gibt es den Fall, dass ein Kollege oder Lehrer einen unverkäuflichen Bogen besitzt, den man gerne auch spielen würde. Es kann aber auch sein, dass man sein eigenes Original schonen will, das Risiko auf Reisen zu groß ist oder man im Ernstfall gerne auf einen Ersatzbogen umsteigen möchte, der die nahezu gleichen Eigenschaften, wie der geliebte und gewohnte Erstbogen hat. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass das Original irreparable Schäden aufweist, man aber auf gewohnte und geliebte Eigenschaften nicht verzichten möchte. In diesem Fall hängt die Möglichkeit der Herstellung einer Kopie jedoch von der „Schwere der Verletzungen“ ab, d. h. davon, ob man die Eigenschaften des Originals noch in allen Einzelheiten vermessen kann.

Wenn ein Künstler sich dazu entschließt, eine Kopie anfertigen zu lassen, sollte er sich darüber im Klaren sein, ob er wirklich mit allen Eigenschaften des Originalbogens einverstanden ist. Wenn Veränderungswünsche auftreten, kann ein rechtzeitiges Gespräch mit dem Bogenmachermeister klären, welche Änderungen im Arbeitsprozess umsetzbar und sinnvoll sind und welche Folgen Veränderungen für das Endprodukt haben. Eine genaue Kopie des Originals beinhaltet immer auch die eventuellen „Fehler“ desselben.

Die immer weiter perfektionierten Techniken bei der Kopie von Streichbogen eröffnet den Künstlern bisher ungeahnte Möglichkeiten. In der Zeit, in der die Preise für  die alten französischen Bogen inzwischen auf enorme Summen gestiegen sind und gerade junge Musiker kaum imstande sind sich ohne Mäzene derartige Objekte zu leisten, müssen sie trotzdem nicht auf die vielgeliebten Klang- und Spieleigenschaften verzichten.

 Anke und Thomas M. Gerbeth